DoktorandInnen unterwegs: Marieta Kaufmann in Curitiba, Brasilien

18.04.2019

Marieta Kaufmann verbrachte sechs Monate in Brasilien, um für ihre rechtswissenschaftliche Dissertation Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch europäische und österreichische Unternehmensaktivitäten systematisch aufzuarbeiten und auszuwerten.

Marieta Kaufmann schreibt an der Universität Wien ihre rechtswissenschaftliche Doktorarbeit zum Thema „Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten und deliktische Unternehmensverantwortung in der internationalen Liefer- und Wertschöpfungskette“. In der Arbeit geht es um die Frage, inwiefern europäische Unternehmen für indirekte Menschenrechtsverletzungen deliktsrechtlich verantwortlich gemacht werden können. Durch die Analyse von aktuellen Rechtfällen von Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der internationalen Liefer- und Wertschöpfungskette europäischer Unternehmen nehme ich eine Konkretisierung unternehmerischer Sorgfaltspflichten im deliktischen Kontext vor. Die Fälle beleuchten unterschiedliche Positionen eines Unternehmens im Rahmen der Projekte: die Verantwortung von Muttergesellschaften gegenüber ihren Tochtergesellschaften, die Verantwortung eines Zulieferunternehmens, die Verantwortung gegenüber beauftragten Unternehmen in dominanter oder untergeordneter Rolle. 

Von Oktober 2017 bis Ende März 2018 forschte die Rechtswissenschafterin an der Pontifica Universidade Católica do Paraná in Curitiba, Brasilien. Der Aufenthalt wurde mit dem Marietta Blau Stipendium des OeAD unterstützt.

Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen:

  • Warum haben Sie sich für einen Auslandsaufenthalt in Curitiba entschlossen? Inwiefern war dieser für Ihre Forschung wichtig?

Aufgrund europäischer Gesetzgebung ist im Falle von Menschenrechtsverletzungen durch europäische Unternehmen das Recht des Landes anwendbar, in dem der Schaden entstanden ist. Insofern ist im Rahmen meiner Dissertation eine Auseinandersetzung mit dem Recht der Staaten, in dem die Menschenrechtsverletzungen eingetreten sind, unabdingbar. Darüberhinaus habe ich während des Forschungsaufenthalts konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch europäische und österreichische Unternehmensaktivitäten besucht, die Gerichtsverfahren systematisch aufgearbeitet und ausgewertet.

  • Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Was war besonders überraschend/aufregend?

Besonders positiv ist mir die Gastfreundschaft und der einfache Zugang in akademische, juristische Kreise aber auch zu den Verfahrensbeteiligten in Erinnerung geblieben. Auskunftswilligkeit und Hilfsbereitschaft in den Tiefen lateinamerikanischer Rechtsprechung haben mir stets geholfen, Licht am Ende des Wissenstunnels zu sehen. Besonders ergreifend ist mir der Fall des Bruchs des Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine im Distrikt Mariana im Bundesstaat Minas Gerais im Südosten Brasiliens in Erinnerung. Die Katastrophe ereignete sich im November 2015: eine Lawine toxischen Schlamms in der Größenordnung von 24.800 olympischen Schwimmbecken zog sich gut 600 Kilometer durch das Land bis in den Atlantik. Die Schadenspositionen gehen in die zweistellige Milliardengröße. Der Aufenthalt in Mariana war besonders ergreifend. Kein Zeitungsbericht konnte mir das Ausmaß der Katastrophe realistisch vor Augen führen. Der toxische Schlamm zeigt bis heute Wirkung: Kratzen in der Lunge und Brennen auf der Haut waren regelmäßige Begleiterscheinungen meines Aufenthalts. Nichtsdestotrotz wohnen nach wie vor Menschen – auf dem Schlamm. Weil sie sich nicht vorstellen können, ihr Land zu verlassen. Weil sie hoffen, dass alles wieder gut wird. Weil sie ohnmächtig sind. Das Ministério Público, eine Ombudsmannstelle mit Öffentlichkeitsrecht, vertritt die Betroffenen mit Kollektivklagen. Doch bis heute ist kein Verfahren abgeschlossen worden. Gegenüber der Realität der Menschen, die nach wie vor zweifelhaftes Wasser trinken und auf den Wiederaufbau ihrer Häuser warten, sind die Auseinandersetzungen um prozessrechtliche Besonderheiten, Kompetenzstreitigkeiten und herrschende Auslegung der Zurechnungsnormen aus einer anderen Welt.

  • Wo lagen die Herausforderungen?

Die rechtliche Aufarbeitung der Fälle hat sich vor Ort sehr viel komplexer dargestellt, als ich das von Österreich aus angenommen habe. Die Sachverhaltsdarstellungen sind kontrovers, die Beweiserhebungen umstritten. Dann gibt es eine Vielzahl potentiell Verantwortlicher: staatliche Behörden, komplexe Unternehmensstrukturen und –beziehungen mit Sitz im In- und im Ausland, Finanzierungsströme aus Europa und vorgetragene politische Intervention. Auf der anderen Seite ist die Frage der rechtlichen Verantwortung für indirekte Beteiligungen europäischer Unternehmen in vielen Fällen offene Rechtsfrage. Schließlich ist das Interesse der Betroffenen nicht einheitlich. Nicht alle wollen Entschädigung, viele werden nicht als Betroffene anerkannt. Die Rechtspositionen der Betroffenengruppen ist unterschiedlich, die Aufarbeitung der Schadenspositionen erfordert viel Detailwissen und Differenzierung.

  • Haben Sie Tipps für andere DoktorandInnen für die Planung und Durchführung eines Auslandsaufenthaltes?

Ich kann einen Auslandsaufenthalt nur empfehlen. Für mich hat sich eine ganz neue Tiefe und Breite der Thematik aufgetan. Darüber hinaus habe ich schon jede Menge Ideen für weitere Forschungsprojekte;-) Der akademische Diskurs um menschenrechtliche Verantwortungen von Unternehmen war m.E. in vielen Aspekten offener und breiter. Ich würde – je nach Forschungsprojektportfolio – mindestens ein halbes Jahr ins Ausland gehen. Außerdem würde ich den Auslandsaufenthalt möglichst in der ersten Hälfte des Dissertationsprojekts durchführen, um anschließend im Zeitplan noch Anpassungen vornehmen zu können.


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