In der Dissertation mit dem Arbeitstitel „Grenzüberschreitungen in Migrationsromanen. Von Theorien der Grenze bis zu ihrer Anwendung als Analysekategorie“ wird eine transareale Untersuchung von sieben deutsch-, englisch- und französischsprachigen Migrationsromanen, in denen Migration vom globalen Süden in den globalen Norden sowie in Bezug auf Europa zudem von Ost nach West thematisiert wird, durchgeführt.
Gegenstand der Analyse sind die in den Romanen erzählten realen, imaginären und symbolischen Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, wobei aufbauend auf Jurij Lotmans Erzähltheorie und die Tromsöer Grenzpoetik ein Interpretationsmodell für die Romananalyse erarbeitet wird.
Von Oktober 2016 bis Juli 2017 forschte Gerlinde Steiniger am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen (Hessen, Deutschland). Finanziert wurde der Aufenthalt durch das Marietta Blau-Stipendium es OeAD.
Im Interview erzählt die Wissenschafterin über Ihren Aufenthalt in Deutschland folgendes:
- Warum haben Sie sich für einen Auslandsaufenthalt am International Graduate Centre for the Study of Culture in Gießen entschlossen? Inwiefern war dieser für Ihre Forschung wichtig?
Das International Graduate Centre for the Study of Culture der Justus-Liebig-Universität in Gießen war aufgrund der kulturwissenschaftlichen und narratologischen Ausrichtung meines Forschungsprojektes naheliegende Wahl, da dieses Zentrum diesbezüglich ein sehr hohes Renommee genießt. Es gibt eine große Nähe meines Projektes zum Forschungsprofil des GCSC, an dem unter anderem zu Mobilität, Migration, Raum, räumlichen Kollektivbildungen, kulturellen Identitäten oder Dekolonialisierung geforscht wird.
Ein weiterer Auswahlgrund war die Interdisziplinarität, die in der Grenzforschung sehr wichtig ist – am Zentrum sind neben den Literaturwissenschaften mehrere Fachbereiche von Sozial- und Geschichtswissenschaften bis hin zur Kunstgeschichte vertreten. Ich halte interdisziplinären Austausch für grundlegend, einerseits um Anschluss- und Verbindungspunkte des eigenen Projektes zu anderen Disziplinen zu finden, andererseits aber auch um festzustellen, welchen spezifischen Beitrag die jeweilige Disziplin zu bestimmten Forschungsfragen leisten kann. Das Herzstück des GCSC sind die Forschungsgruppen, in denen die Forscher_innen disziplinenübergreifend themenspezifisch (zum Beispiel Global Studies and Politics of Space, Cultural Identities) gemeinsam Projekte (Konferenzen, Lesekreise, Labs, Ausstellungen usw.) entwickeln und organisieren.
Ich habe auf sehr vielfältige Weise von meinem Aufenthalt in Gießen profitiert. Neben der Arbeit an der Dissertation beteiligte ich mich aktiv an mehreren Forschungsgruppen oder nahm an Meisterklassen und anderen Kursen teil, die für unterschiedliche Teilbereiche meiner Forschung relevant waren. Wertvoll war für mich insbesondere auch das Feedback der Expert_innen und promovierenden Kolleg_innen zu meinem Projekt. Der Aufenthalt war nicht nur der Weiterentwicklung meines Projektes förderlich, sondern auch meiner persönlichen Entwicklung als Wissenschaftlerin – ein Doktoratsstudium umfasst weitaus mehr als das Verfassen einer Dissertation. An einem Graduiertenzentrum zu studieren, ist von einer ganz anderen Qualität, denn im Mittelpunkt stehen die Doktorand_innen, ihre Projekte und die Vermittlung grundlegender wissenschaftlicher Kompetenzen.
- Was ist Ihnen von Ihrer Zeit in Gießen besonders in Erinnerung geblieben? Was war besonders überraschend/aufregend?
Im Wintersemester wollte ich als Gasthörerin an einem Seminar über Migration an der Germanistik der JLU teilnehmen, doch dann wurde ich gefragt, ob ich nicht als Lehrassistentin diesen Kurs mitunterrichten wolle. Da ich zuvor noch nie unterrichtet hatte – das war erst für das Ende meines Doktoratsstudiums gedacht – und ich dieses Format des Co-Teachings als einen guten Einstieg sah, nahm ich dieses wunderbare Angebot dankend an. Da der Lehrveranstaltungsleiter einige Jahre in den USA unterrichtet hat, hat er dieses Seminar auch ganz anders angelegt, als mir aus meiner eigenen Studienzeit bekannt ist, was ich spannend und lehrreich fand. Das erste Mal zu unterrichten – die Seiten zu wechseln –, und das noch dazu an einer anderen Universität, war natürlich sehr aufregend.
Eine zweite überraschende Sache war, wie viel Nutzen ich aus meiner eigenen (zeitlich begrenzten) Migration für meine Forschung ziehen konnte. Nach einem dreimonatigen Erasmus-Aufenthalt in Irland waren diese zehn Monate mein längster Aufenthalt in einem anderen Land. Auch wenn meine Erfahrungen durchaus nicht mit jener Migration vergleichbar sind, die in den Romanen meines Textkorpus behandelt wird (in denen auch die starke (Macht)Asymmetrie von Herkunfts- und Zielländern und damit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen eine gewichtige Rolle spielen), gab es immer wieder Dinge, die ich wiedererkannte und die ich nun besser verstehe, wie das nicht verwurzelte, flüchtige Leben in der Fremde, die sich aufdrängende Frage, wo sich für einen das Zuhause und die Heimat/en befinden und was diese einem bedeuten, oder wie es sich anfühlt, wenn man wegen eines Differenzmerkmales (in meinem Fall das österreichische Deutsch) ständig gefragt wird, woher man denn kommt und was man hier macht, wenn man also die eigene Anwesenheit rechtfertig muss. Und nicht zuletzt: Wenn man einmal „mobil“ geworden ist, Distanz zum gewohnten Leben aufgebaut hat, kommt man nie mehr ganz zurück, denn man selbst ist anders geworden und das Vertraute etwas fremd.
Grenzen und Migration gehen uns alle etwas an – insbesondere wegen ihrer derzeitigen Aktualität in Gesellschaft und Politik. In diesem Feld zu forschen, erfordert meiner Meinung nach viel Reflexion zum Beispiel über Fragen einer räumlich geprägten Identität (als eine von mehreren unserer Identitäten) und Zugehörigkeit/en oder was man über Grenzziehungen als fremd oder die Fremde markiert. Gerade auch die Zugfahrten von Wien nach Frankfurt und retour sind mir besonders in Erinnerung geblieben, da ich dieses Unterwegssein, das Weder-hier-noch-dort-Sein, das beim Zugfahren viel eindrücklicher ist als beim Fliegen, genutzt habe, um über diese Dinge nachzudenken, zum Beispiel darüber, was es bedeutet und ob es (mir) überhaupt etwas bedeutet, wenn ich die Staatengrenze bei Passau passiere. Das Überqueren von Grenzen führt zum Erzählen von Geschichten. Die Stärke der Literatur liegt darin, eine solche individuelle Perspektive in einer fiktionalen und ästhetisierten Form darzustellen und für die Leser_innen erfahrbar zu machen.
- Wo lagen die Herausforderungen?
Eine der größeren Herausforderungen am GCSC – die dort und auch an anderen Forschungsinstitutionen wohl alle Forscher_innen und insbesondere die Doktorand_innen betrifft – ist es, eine Balance zwischen der Arbeit an der Dissertation und den weiteren Aktivitäten an der Institution zu finden. Das GCSC hat ein sehr großes und spannendes Angebot, unter dem Semester gab es kaum eine Woche, in der man nicht an einer Veranstaltung oder einem Kurs hätte teilnehmen können. Was ich auch besonders wertschätzte und wofür ich dankbar bin, ist die offene Art, mit der ich am Zentrum empfangen wurde, denn ich war in der Auswahl meiner Aktivitäten völlig frei und mir wurden auch keinerlei Barrieren in den Weg gelegt.
Eine ungeplante, wenn auch sehr angenehme Herausforderung war sprachlicher Natur: Mir war nicht bewusst, dass Verkehrs- und Unterrichtssprache am GCSC Englisch ist. Ich empfand das als sehr positiv, da es meinen Aufenthalt noch einmal aufwertete – man wird oft belächelt, wenn man für einen internationalen Forschungsaufenthalt „nur“ nach Deutschland geht. Übrigens entstanden Sprachprobleme beziehungsweise -konflikte weniger im universitären Bereich auf der Linie Deutsch-Englisch, sondern eher im Alltag aufgrund der Unterschiede im Wortbestand und -gebrauch von österreichischem und deutschem Deutsch.
Auch die (bewusst gesuchte) Interdisziplinarität war manchmal etwas herausfordernd. Wenn es zu wenig übergreifende Gemeinsamkeiten gibt, die Untersuchungsgegenstände und Zugänge der jeweiligen Disziplinen zu verschieden sind oder auch – wie es leider in einer Forschungsgruppe der Fall war – eine einzelne Disziplin mit ihren Forschungsfragen dominiert, wird eine Verständigung sowie eine produktive Zusammenarbeit schwierig. Aber das gehört eben zum Risiko der Interdisziplinarität dazu, dass es manchmal nicht (gut) funktioniert.
- Haben Sie Tipps für andere DoktorandInnen für die Planung und Durchführung eines Auslandsaufenthaltes?
Empfehlenswert ist es, sich bereits im Vorhinein so weit als möglich über die Gegebenheiten vor Ort zu informieren: Stellt die gastgebende Institution einen Arbeitsplatz zur Verfügung? Welche Personen sind in den ersten Tagen aufzusuchen beziehungsweise welche Behördengänge sind zu erledigen? Wie kommt man an einen Bibliotheksausweis? Welche Bücher sind in den Bibliotheken vorhanden, welche muss man mitnehmen? – Je besser die Vorbereitung, desto entspannter und strukturierter kann man die erfahrungsgemäß stressigen ersten Tage bewältigen.
Für sehr wichtig halte ich es zudem, so bald als möglich Kontakte vor Ort zu knüpfen und sich ein Netzwerk aufzubauen – um sich schneller einzuleben, um abseits von Familie und Freund_innen nicht zu vereinsamen und um im Notfall oder auch für ganz alltägliche Angelegenheiten Unterstützung zu haben. Da ich mit dem Beginn des Studienjahres ans Graduiertenzentrum kam, ergriff ich die Chance, mit dem neuen Doktorand_innenjahrgang die Einführungswoche zu absolvieren, wodurch ich sofort Anschluss fand. Sinnvoll war es aus meiner Sicht auch, zuerst zur Zwischenmiete in eine Wohngemeinschaft zu gehen, denn oft lässt sich erst nach einer Eingewöhnungsphase feststellen, wo und wie man in einer neuen Stadt am besten wohnt.